Ich bin in der DDR geboren, habe relativ bewusst die Wende miterlebt und bin nun bereits über 21 Jahre Bürger dieses gemeinsamen Landes. Und ich bin es gern, sehr gern sogar.

Aber ich habe Angst, ja ich habe tagtäglich Angst. Nicht etwa Angst in Jena oder allgemein im „Osten“ des Landes zu leben. Nein, ich habe Angst davor, dass Journalisten und TV-Sender Ihrem beruflichen Auftrag nicht korrekt nachkommen. Angst davor, dass Sachverhalte stets einseitig betrachtet und ebenso einseitig darüber berichtet wird.

Ich persönlich betrachte alle Menschen ersteinmal neutral und versuche mir ein Bild von ihnen zu machen, wenn ich sie kennenlerne. Pauschale Verurteilungen liegen mir nicht so. Dann wird man via Twitter auf eine Thematik bzw. einen Fernsehbeitrag aufmerksam gemacht, der vor lauter Vorurteilen nur so strotzt. Das ZDF hat zusammen mit einem Buchautor, welcher selbst über einen „Migrationshintergrund“ verfügt, einen Bericht über Jena gedreht und in selbigem auf die Gefahren – stellvertretend für ganz Ostdeutschland – durch rechtsradikales Gedankengut dargestellt.

Schauen wir uns aber diesen Bericht einmal detailiert an:

1) Allein der Titel des Berichtes im Link schafft ein Bild, welche ich persönlich jedoch im Beitrag selbst überhaupt nicht wiederfinde. „Extreme Gewaltbereitschaft“

2) Die musikalische Untermalung des Beitrages verstärkt das negativ zu zeichnende Bild, welches von den Machern offenbar gewünscht ist.

3) Als „Hauptfigur“ des Beitrages wurde eine Person ausgewählt, welche meiner Ansicht nach überhaupt nicht repräsentativ zu diesem Thema etwas beitragen kann.

Relativ zu Beginn des Beitrages sagt die Stimme aus dem Off: „Für Leute mit Migrationshintergrund kein Paradies“ – im Hintergrund das Bahnhofsschild vom Paradiesbahnhof. Direkt folgend wird auch erklärt warum. Denn aus „dem rechtradikalen Milieu dieser Stadt stammen die 3 Terroristen“, über welche seit geraumer Zeit die Medienlandschaft berichtet. Und genau dies bleibt auch der Aufhänger des Berichtes. Natürlich ist es unstrittig, dass diese 3 Personen u.a. auch in Jena gelebt und gewirkt haben. Na und? 3 Personen spiegeln aber bei Weitem keine ganze Stadt und deren Menschen wieder. Von ganz „Ostdeutschland“ ganz zu schweigen.

Dann kommt der für mich entscheide Satz des Beitrages: „Uhly lebt in München und kommt nur selten in den Osten Deutschlands.“ Die Begründung liefert der Autor gleich selbst hinterher: „Ich sehe nicht deutsch aus und ich würde den Osten gerne bereisen, aber ich hab einfach zu viel Angst um mich hier frei zu bewegen.“ Gleich danach wird dann auf den Umstand hingeweisen, dass Herr Uhly einen Roman geschrieben hat, in dem ein türkischer Geheimagent den Auftrag bekommt, einen Neonazi umzubringen, welcher ein „Videospiel erfunden hat, in dem es darum geht, möglichst viele Türken zu töten“ und dieser Neonazi ist ein V-Mann.

Abgesehen davon, dass sich mir nicht erschliesst, warum man solche Dinge zum Thema eines Romans machen muss: wie kann jemand in einem Fernsehbericht über eine Stadt und vielmehr noch, über einen ganzen Landstrich urteilen, welchen er nur selten bereist. Wurde er bereits einmal angegriffen? Hat er Erfahrungen mit rechter Gewalt erlebt, welche im direkten Zusammenhang mit „Ostdeutschland“ stehen? Nichts davon wird im Beitrag erwähnt. Einzig, dass er eben nicht deutsch aussehe und er sich somit nur mit Angst frei „im Osten“ bewegen kann dient offenbar als Grundlage.

Dabei bewegt er sich im Beitrag recht frei in den Strassen Jenas – Angst kann ich nicht erkennen in seinem Gesicht. Dann trifft er einen Ex-NPD-Vorstand und unterhält sich mit ihm in einem Döner-Laden (wie plakativ!). Nachdem die Off-Stimme mitteilt, dass Herr Uhly auch die Universitätsstadt Jena für einen „Teil der ostdeutschen Angstzone“ hält, wird attestiert, dass sich Herr Uhly in Jena „sehr wohl unbehelligt leben könnte, er dürfte halt nur keine Angst zeigen“ – bezogen auf die NPD bzw. die rechte Szene. Und in anderen Städten ist dies anderes?

Herr Uhly bestätigt die Aussage, dass man keine Angst zeigen dürfe mit den Worten „das ist bei Hunden so, und das ist bei Menschen auch so“ – aber deswegen würde er trotzdem nicht in „den Osten“ ziehen, da er keine Lust hat, öfter mal aus dem Fenster schauen zu müssen, da dies für ihn schon Angst haben wäre. Ich bin mir sicher, dass man in Jena ebenso wenig aus Angst aus dem Fenster schauen muss wie in München, Köln, Hamburg oder einer anderen „westdeutschen“ Stadt. Vielmehr schaut man in Jena aus dem Fenster um sich diese tolle Stadt immer wieder anzuschauen – vollkommen frei von Angst. So geht es zumindest mir und ich kenne niemanden in dieser Stadt, der mit Angst aus dem Fenster sieht.

Abschliessend fragt die Stimme aus dem Off: „Und, hat sich Uhly´s Bild vom Osten gewandelt?“ – Seine Antwort: „Nö.“ und danach ein lockeres, entspanntes und vollkommen angstfreies Grinsen. „Hat sich nicht gewandelt, war aber jetzt auch nicht so schlimm.“ gefolgt von einem lockeren entspannten Lachen.

Es war also gar nicht schlimm, das Bild vom „Osten“. Man wendet also knapp 5 1/2 Minuten TV Zeit auf, um ein negatives Bild zu zeichnen und zu verstärken um in den letzten Sekunden zu vermitteltn, dass es gar nicht so schlimm war bzw. ist?

Ich finde es schade, vielmehr traurig, dass Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders, so einen plakativen und einseitigen Bericht verfassen und diesen dann auch noch zur Austrahlung bringen, bzw. die Senderverantwortlichen dies zulassen. Würde man Gleiches tun, kämen die Leute aus einer „westdeutschen“ Stadt? Ebenso traurig finde ich es, dass eine Person mit „Migrationshintergrund“ so voller Vorurteile steckt und wegen ein paar weniger Menschen gleich alle anderen in den selben Topf wirft. Wie würde er es finden, wenn man die Taten weniger Bengalen gleich dem ganzen Volk zuordnet und hier pauschal urteilt? Ebenso traurig ist es, dass nach 21 Jahren noch immer pauschal in „Ost“ und „West“ unterschieden wird. Von „Nord“ und „Süd“ lese ich hingegen nie etwas in dieser Richtung. Die berühmte Mauer in den Köpfen der Menschen wird nie fallen, wenn Sender mit einem Bildungsauftrag deartige Bilder weiter schaffen.

Liebes ZDF: mit diesem Beitrag habt Ihr das Niveau so mancher Privatsender-Berichterstattung weit unterboten. Journalistisch ist der ganze Beitrag mAn vollkommen daneben. Zudem muss ich mich und vielmehr Euch ersthaft fragen, warum Ihr die etwas mehr als 1 Minute, welche für die Promo des Buches Eurer Hauptfigur gesprochen wurde, nicht viel mehr dazu genutzt habt, einmal ein paar Bürger der Stadt über Ihre Sichtweise zu befragen. Gern auch Bürger der Stadt mit einer anderen Nationalität. Dann hätte vielleicht Herr Uhly erfahren, dass es Menschen gibt, die angstfrei und gern hier leben, auch wenn sie „nicht deutsch aussehen“. Hier in Jena, hier in „Ostdeutschland“!

Aber vielleicht hätte sich Herr Uhly auch einmal mit seinem Oberbürgermeister vorher unterhalten sollen. Dieser fand nämlich für Jena nur lobende Worte

Update – 23.11.2011: Erste Reaktion der Aspekte Redaktion (Danke an Romy für den Hinweis)

Update 2 – 23.11.2011: Rechtsextremismus in München Chronik brauner Gewalt – Soviel zum Thema sicheres München (Danke an Aniko für den Hinweis)

Update 3 – 23.11.2011:

Die Redaktion von aspekte hat eine Stellungnahme veröffentlicht:

Liebe Zuschauer,

vielen Dank für Ihre Zuschrift zu unserer Sendung vom 18.11. Wir bedauern, dass unser Beitrag Sie so sehr empört hat. Wir hatten nicht die Absicht „den Osten“ und die Stadt Jena pauschal zu verurteilen.

Allerdings halten wir es für journalistisch vertretbar, dass wir dem Schriftsteller Steven Uhly, der sich wie viele andere Bürger auch in den östlichen Bundesländern von manifester Fremdenfeindlichkeit und rassistischen Pöbeleien bedroht fühlt, ein Forum gegeben haben. Seine Angstgefühl mag höchst subjektiv sein, ist aber deswegen nicht weniger legitim. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, einem Interviewpartner die Meinung einer Redaktion in den Mund zu legen.

Nach der Entdeckung eines rechtsterroristischen Netzwerks, das zehn Menschen ermordet hat, haben wir Uhly Gelegenheit gegeben, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Mit diesen Ängsten steht er als Bürger mit ausländischen Wurzeln keineswegs allein da.

Dass es in Jena viele Menschen gibt, die sich seit Jahren, wie Pfarrer König, im Kampf gegen die rechte Szene engagieren, hat unser Beitrag deutlich gezeigt. Aber gerade er und der Aussteiger Uwe Luthardt bestätigen die Existenz einer gewissen Fremdenfeindlichkeit, also genau den Grund für die Angst von Steven Uhly. Auch der kurdische Imbissbesitzer, bei dem sich Luthardt und Uhly trafen, wollte nicht vor die Kamera. Er habe Angst sich das Geschäft zu verderben, erklärte er seine Ablehnung. Noch immer gibt es in der Universitätsstadt Jena den berühmt berüchtigten Nazitreffpunkt das „Braune Haus“, das zwar zur Zeit aus baurechtlichen Gründen geschlossen ist, dessen Garten aber immer noch für rechtsextreme Versammlungen genutzt wird.

Von den 156 Menschen, die seit 1990 bei rechtsextremistischen Übergriffen zu Tode kamen, ist die Hälfte im Osten ermordet worden. Wenn man diese Zahl ins Verhältnis zu den Einwohnerzahlen der alten und neuen Bundesländer setzt, dann stellt man fest, dass die Zahl der Übergriffe in den neuen Bundesländern signifikant, nämlich fünfmal höher liegt. Zwar sind die rechten Gewalttaten mit Todesfolge glücklicherweise rückläufig, aber die ostdeutschen Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt berichten, dass sich die Zahl rechter Übergriffe seit Jahren auf einem skandalös hohen Niveau bewegt.

Wenn unser Beitrag Ihrer Meinung nach die Auseinandersetzung mit dem Problem des Rechtsextremismus nicht gefördert hat, tut uns das leid. Wir können Ihnen aber versichern, dass wir an diesem sensiblen Thema dran bleiben.

Mit freundlichen Grüßen,

Anna Riek,
Redaktion aspekte

Ich habe die Stellungnahme in einem gesonderten Blogpost kommentiert.

Update 4 – 24.11.2011: Wie sachlicher Journalismus aussehen kann zeigt der Tagesspiegel mit folgendem Artikel:

Rechter Terror: Im Osten gibt es ein Problem (Danke an @ka_sandra für den Hinweis)

Update 5 – 24.11.2011: Noch ein Beispiel, wie man reflektierter mit dem Thema umgehen kann von Zeitonline:

Rechtsextremismus Hier doch nicht!

Update 6 – 30.11.2011: Dortmund nun auch „Angstzone“? -> Neonazis greifen Jugendliche an

Liest man den Text wird klar, wie schlecht aspekte recherchiert haben muss:

Dortmund ist ein Schwerpunkt der Szene

Nirgendwo in Deutschland werden mehr rechte Straftaten gezählt als in dem bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen. Zwischen 4000 und 5000 Verfahren leiteten die Behörden hier in den vergangenen Jahren jeweils ein. Und Dortmund ist ein Zentrum der Szene.

Der WDR nannte die Stadt bereits eine „Neonazi-Hochburg“. Ein Aussteiger sagte: „Gerade in Dortmund haben wir uns oft gewundert, wie es sein kann, dass wir solche Dinge tun, wie körperliche Angriffe auf Antifaschisten, ohne dass es Konsequenzen gegeben hat. Dass wir entweder gar nicht festgenommen wurden, es gar nicht zur Anzeige kam oder dass die Anzeige eingestellt wurde.“

 

weitere Artikel/Berichte zum Thema:

Google+ Post von Markus Winkler

Jena ist kein braunes Nest und man braucht auch keine Angst haben, hier zu wohnen.

Offener Brief an das ZDF

Wir erwarten eine öffentliche Entschuldigung des ZDF mindestens bei allen Bürgern Jenas

Widerstand gegen rechts in Jena – Kein braunes Nest

Nein, ZDF: Jena ist keine gefährliche Nazi-Stadt

Erklärung zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus der Stadt Jena / Stadtrat / Oberbürgermeister

Jena – Nazi-Stadt im Nazi-Osten

Auch wenn ich inhaltlich nicht mit allem übereinstimme, hier auch eine kritische Stimme aus Jena zu der Reaktion der Bürger:
Meinung: Jena – alles harmonisch, oder?

Eine weitere Meinung kommt aus Hamburg. Auch hier bin ich inhaltlich nicht mit allem einverstanden, dennoch will ich den Lesern den Artikel nicht vorenthalten:

Jena ist nicht Braun, es ist weiss

Die Idee einer Win-Win-Situation für alle:

Zorniger Engel bekommt Angst: Wortmeldung aus der „Ostdeutschen Angstzone“

Beitrag vom Flurfunk Dresden: Videohinweis: ZDF-Aspekte-Beitrag “Extreme Gewaltbereitschaft”

beim Bewerberblog ist man sich einig: Jena – Gefällt mir!

Share This